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Tschechoslowakische Legion in Russland 1918–1920

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Ein NZZ Artikel über die Tschechoslowakische Legion in Russland 1918–1920

Irrfahrt durch Sibirien: Wie eine Freiwilligenarmee sich den Weg an den Pazifik und in eine neue europäische Heimat bahnte

Von Andreas Rüesch, NZZ 13.02.2020
Originalartikel (nür fur NZZ-Abonnente)

Den Artikel habe ich aus der NZZ kopiert. Ich möchte den Text auf meiner Homepage speichern - zur Erinnerung an meinen Grossvater, der als Legionär auch dabei war.

Vor 100 Jahren endete mit der Evakuation der Tschechoslowakischen Legion aus Wladiwostok eine der erstaunlichsten Operationen der Militärgeschichte. Fast 60'000 Mann schlugen sich von Osteuropa bis an den Pazifik durch – obwohl es sie eigentlich genau in die umgekehrte Richtung zog.

Die Soldaten, die am 13. Februar 1920 das Frachtschiff «Nischni Nowgorod» bestiegen, hatten eine lange Reise vor sich: Sie führte von der russischen Pazifikstadt Wladiwostok rund um Asien und durch den Suezkanal bis zum Mittelmeerhafen Triest, von wo aus per Zug die letzte Etappe nach Prag begann. Insgesamt sollte die Reise zwei Monate dauern. Und doch war es bloss ein Spaziergang im Vergleich zu dem, was diese Tschechen und Slowaken in den Jahren zuvor durchgemacht hatten: Während des Ersten Weltkriegs stiessen sie vom Kaiserreich Österreich-Ungarn in die heutige Ukraine vor, gerieten in die russischen Revolutionswirren und kämpften sich schliesslich einen Weg durch Sibirien bis an den Pazifik frei – eine Odyssee von mehr als 10'000 Kilometern. Laut dem Militärhistoriker David Bullock wurden fast 60'000 Mann und 11'000 Zivilisten – manche Soldaten und Offiziere hatten inzwischen Frau und Kind – bis Ende 1920 via Wladiwostok repatriiert.

Der Vormarsch der Tschechoslowakischen Legion 1918–1920

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Die hier gezeigten Staatsgrenzen entsprechen dem heutigen Verlauf. Anfang 1918 war insbesondere die Ukraine noch ein Teil Russlands, und das Gebiet des heutigen Tschechien und der Slowakei gehörte zu Österreich-Ungarn.
Quelle: Andreas Rüesch, NZZ

Mit ihrer Rückkehr betraten sie erstmals den Boden der unabhängigen Tschechoslowakei, die während ihrer Abwesenheit aus der Konkursmasse des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn hervorgegangen war. Der Kraftakt der Tschechoslowakischen Legion ist heute ausserhalb ihrer Heimatregion fast völlig vergessen. Doch damals erregten diese Kämpfer weltweites Aufsehen.

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Das russische Frachtschiff «Nischni Nowgorod», eines der Schiffe, die 1920 tschechoslowakische Legionäre von Wladiwostok nach Europa zurückbrachten.
Quelle: PD

Unabhängigkeitskämpfer in fremden Diensten

Wie aber konnte es überhaupt geschehen, dass Tschechen und Slowaken auf russischen Schlachtfeldern kämpften? National gesinnte Kreise um den späteren Staatspräsidenten Tomas Masaryk sahen mit dem Ausbruch des Weltkriegs 1914 die Chance gekommen, die Idee eines tschechoslowakischen Nationalstaates zu verwirklichen. Es war eine verwegene Vision, denn noch war die Niederlage Österreich-Ungarns erst eine Hoffnung, und abgesehen von ihren nah verwandten Sprachen trennte die beiden slawischen Völker so manches. Aber die Nationalisten unter ihnen lehnten es ab, für die autokratische Habsburgermonarchie und gegen die slawischen «Brüder» aus dem zaristischen Russland zu kämpfen. Während des Krieges häuften sich an der Ostfront Desertionen, manchmal liefen sogar ganze Einheiten zu den Russen über. Sie vereinigten sich mit Freiwilligenverbänden, die Angehörige der tschechischen und der slowakischen Minderheit im Zarenreich gebildet hatten. Eine dritte Rekrutierungsquelle waren später auch tschechische und slowakische Soldaten aus der k. u. k. Armee, die in russische Kriegsgefangenschaft geraten waren und sich überzeugen liessen, von nun an gegen ihren Kaiser zu kämpfen.

Die Tschechoslowakische Legion und ihre politischen Führer im Ausland hatten ein klares Kalkül: Tschechen und Slowaken sollten mit einem militärischen Beitrag zur Kriegführung der Entente (Frankreich, Grossbritannien, Russland) Anerkennung für ihre Idee eines eigenen Staates gewinnen. Ein erstes Mal zeigte die Legion ihre Schlagkraft im Juli 1917 in der Schlacht von Sborow in der heutigen Westukraine, als es ihr im Rahmen einer russischen Offensive gelang, die Stellungen der Mittelmächte zu durchbrechen. Nun wuchsen die Reihen dieser Armee schnell an. Aber nach der bolschewistischen Oktoberrevolution geriet die Legion in eine prekäre Lage. Die neue russische Führung unter Lenin wollte Frieden um jeden Preis und hatte für die Legion keine Verwendung mehr. Während der Krieg in Westeuropa noch bis zum November 1918 andauerte, schlossen die Bolschewiki bereits im März einen Separatfrieden mit den Mittelmächten. Damit platzte der Traum der Tschechen und Slowaken, von Osten her ihre Heimat zu befreien. Wollten sie den Kampf fortsetzen, so mussten sie Russland verlassen und sich den Alliierten im Westen anschliessen. Doch wie?

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Die Tschechoslowakische Legion war vom Frühsommer 1918 an eine Art Eisenbahn-Armee: Sie verfügte über gepanzerte Wagen, auf denen Schützen mit Sturm- und Maschinengewehren postiert waren.
Quelle: PD

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Im Innern richteten es sich die Soldaten gemütlich ein; in manchen Wagen gab es sogar Bäckereien.
Quelle: National Library of the Czech Republic

Durch die Revolutionswirren in Russland sahen sich die Legionäre zunehmend blockiert und auf feindlichem Terrain eingeschlossen. Der Weg nach Westen war versperrt, dort standen die Armeen der Mittelmächte. Ebenso ausgeschlossen war eine Flucht nach Süden zu den Schwarzmeerhäfen, da die Ukraine ihre Unabhängigkeit ausgerufen hatte und mit Deutschland paktierte. Auf einer nördlichen Route, über den Hafen Archangelsk am Weissen Meer, gelang zwar in Absprache mit den Bolschewiki die Ausschiffung von 1100 Soldaten. Aber bald war auch dieser Weg versperrt. Damit blieb nur ein Abzug nach Osten – quer durch Russland, in Wagen der Transsibirischen Eisenbahn. Am Pazifik sollten dann die Alliierten für eine Evakuation sorgen. Geschickt hatte Masaryk eingefädelt, dass die tschechisch-slowakischen Freiwilligen den französischen Streitkräften angegliedert wurden. Damit besass Paris nun eine Mitverantwortung für ihr Schicksal.

«Der Plan ist geradezu schwindelerregend»

Die Aussicht darauf, um die halbe Welt zu reisen, um irgendwann von Westen her die Heimat zu erreichen, muss auch bange Gedanken ausgelöst haben: «Der Plan ist sicherlich geradezu schwindelerregend, vor uns 10 000 Werst [altes russisches Längenmass, 1,1 Kilometer], wir nur eine Handvoll und die Hälfte davon entwaffnet», schrieb ein böhmischer Bauernsohn in sein Tagebuch. «Aber starker Wille und Begeisterung können alles erreichen.» Was heute eine einwöchige Ferienreise mit der Transsib sein kann, wurde für die Legionäre zu einer zweijährigen Geduldsprobe. Mehr als 4000 von ihnen kamen auf dem Weg nach Wladiwostok ums Leben.

Bereits beim Abzug aus dem Raum Kiew im März 1918 mussten sich Einheiten der Legion den Weg freikämpfen, um der Umzingelung durch deutsche Truppen zu entgehen. Es folgten zunehmend feindselige Auseinandersetzungen mit der Roten Armee und lokalen revolutionären Machthabern. Die Bolschewiki waren zwar grundsätzlich mit dem Evakuationsplan einverstanden, aber unter Druck der Mittelmächte versuchten sie die Fahrt zu verzögern. Vor allem aber pochten sie auf eine weitgehende Entwaffnung. Die Tschechoslowaken gingen zunächst auf diese Forderung ein, im Tausch gegen freie Durchfahrt. Aber das Misstrauen war gross: «Wer kann sich jetzt noch von seinem Gewehr verabschieden! Wer wird die Jungs dazu bringen, sie den verräterischen Bolschewiki zu übergeben, die immer mehr und mehr von uns verlangen», notierte sich ein nationalistisch gesinnter tschechischer Lehrer.

Im Mai entluden sich die Spannungen in einer offenen Revolte gegen die «Roten». Am zentralrussischen Knotenpunkt Pensa überwältigten Legionäre die 3000-köpfige Garnison und holten sich die Waffen zurück, die sie zuvor widerwillig abgegeben hatten. In Tscheljabinsk im Ural besetzten sie aus Empörung über die Festnahme einiger Soldaten durch den lokalen Sowjet die ganze Stadt. Die Ereignisse bewirkten einen Umschwung; die Kommandanten sahen, dass ihre kampferprobten und hochmotivierten Einheiten den bunt zusammengewürfelten Roten Garden überlegen waren und sich keine Bedingungen diktieren lassen mussten. Künftig würde sie sich den Weg einfach freischiessen.

Zarengold erbeutet

In rascher Folge brachte die Legion im Sommer 1918 die meisten Städte entlang der transsibirischen Route unter ihre Kontrolle. Waren die Legionszüge anfangs noch isoliert in Feindesland unterwegs gewesen, so konnten die drei Abteilungen am 1. September die Vereinigung ihrer Machtzonen feiern. Die Tschechoslowaken kontrollierten nun einen Korridor von der Wolgaregion über Sibirien bis an den Pazifik. Es war wohl das erste und einzige Mal in der Weltgeschichte, dass ein Herrschaftsgebiet auf der Basis einer «Eisenbahn-Armee» errichtet wurde. Mit ihren Maschinengewehrschützen und ihren gepanzerten Lokomotiven waren die Legionäre überaus schlagkräftig und stiessen damit nun auch auf Nebenstrecken vor. Dabei machten sie gemeinsame Sache mit den Gegnern der Bolschewiki; bei einer dieser Operationen erbeuteten sie die zaristischen Goldreserven, die einst aus Sicherheitsgründen aus der Hauptstadt nach Kasan verlegt worden waren. Mit ihrer militärischen Präsenz trug die Legion massgeblich dazu bei, dass sich eine antikommunistische Gegenregierung mit Sitz in Omsk bilden konnte. Diese geriet bald unter die autokratische Herrschaft von Admiral Koltschak, einem Anführer der «Weissen Armee».

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Eine berühmt-berüchtigte Zugskomposition der Legion war der «Orlik» (Kleiner Adler), bestehend aus gepanzerten Wagen und Kanonen an beiden Enden.
Quelle: National Library of the Czech Republic

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Tschechoslowakische Legionäre in der sibirischen Kälte.
Quelle: National Library of the Czech Republic

Der militärische Erfolg der Tschechoslowaken hatte allerdings eine Kehrseite: Die Alliierten erkannten in der Legion ein nützliches Instrument, das sie lieber in Russland einsetzten, statt es nach Europa zu bringen. Just in dem Moment, da der Weg an den Pazifik frei gewesen wäre, kam der Befehl, wieder nach Westen vorzustossen. Offiziell lautete die Begründung, es gelte die noch immer nicht besiegten Mittelmächte unter Druck zu setzen. Ein wichtiges Motiv war aber auch, die «Weissen» zu unterstützen und so die Ausbreitung der bolschewistischen Macht zu verhindern. So verzögerte sich der Abzug selbst noch, als der Weltkrieg im November 1918 endete und sich der Traum einer unabhängigen Tschechoslowakei erfüllte. Das ganze folgende Jahr über blieb die Legion in Scharmützel verwickelt. Als die Rote Armee jedoch immer stärker wurde und der Machtbereich von Koltschaks «Weissen» rasant schrumpfte, beorderte Präsident Masaryk die Truppe nach Hause.

Zum Schluss ein Verrat

Das Ende war unheroisch: Um in Irkutsk freie Durchfahrt zu erhalten, willigte das Legionskommando kurzerhand ein, Admiral Koltschak mitsamt dem Goldschatz dem örtlichen Sowjet auszuliefern. Drei Wochen später, am 7. Februar 1920, wurde Koltschak hingerichtet. Aber der Abzug der Tschechoslowaken verlief fortan ungehindert, und in Wladiwostok stachen fast wöchentlich Schiffe mit Hunderten von Legionären in See. Der Auftritt der Tschechen und Slowaken auf der Bühne der Weltpolitik war vorbei. Und heute, 100 Jahre später, ist selbst der gemeinsame Staat dieser beiden Völker längst Geschichte.

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«Die neuen Herren Sibiriens» – mit dieser Schlagzeile machte die New Yorker «Sun» am 14. Juli 1918 auf die erstaunlichen Erfolge der Tschechoslowaken aufmerksam. Die Titelseite zeigt Porträts von Tomas Masaryk, dem späteren Staatsgründer, und seinem Berater Karel Pergler.
Quelle: PD

Vom Legionär zum Ministerpräsidenten

A. R. Nach der Rückkehr der Legion in die Tschechoslowakei setzten viele ihrer Kommandanten ihre Karriere fort. Der wichtigste war General Jan Syrovy, der vom Sommer 1918 an die Legion geführt hatte. Syrovy wurde 1920 in Prag begeistert begrüsst. Schon rein äusserlich war er eine eindrückliche Gestalt; wegen einer Kriegswunde trug er eine schwarze Augenbinde. Da die Tschechoslowakei erst seit kurzem unabhängig war, hatte der Aufbau eigener Streitkräfte hohe Bedeutung. Der gelernte Bauingenieur Syrovy liess sich in Frankreich weiterbilden und wurde 1926 Generalstabschef und Verteidigungsminister, 1938 Ministerpräsident. In dieser Funktion musste er erleben, wie die Tschechoslowakei von Nazideutschland schrittweise zerschlagen wurde. Nach dem Krieg machten ihm die Kommunisten den Prozess. Er starb verarmt 1970.

Berühmter als er wurde trotz allem ein anderer Russland-Legionär: der Schriftsteller Jaroslav Hasek. Der überzeugte Sozialist diente allerdings nur kurz in der Legion und schloss sich 1918 den Bolschewiki an. 1920 kehrte er heim und verarbeite seine Erfahrungen im Roman «Der brave Soldat Schwejk».

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